Bedros Tchakalian – ein Armenier in Shanghai

 

Die nachfolgenden Ausführungen zur Person Bedros Tchakalians basieren hauptsächlich auf den biographischen Erzählungen seines Sohnes Jean Chaland mit dem Titel „D’Erzeroum à Shanghai – Itinéraire de mon père armenien“ Thélès-Verlag, Paris 2007

Jugend

Reisende, die heute in Shanghai die bei Touristen sehr beliebte Huaihai Road aufsuchen, staunen nicht schlecht, wenn sie in einem Laden mit dem Namen traditionsreichen Namen Lo Da Tchang auf typisch französische Backwaren stoßen. Es ist das Verdienst des Flüchtlings Bedros Tchakalian aus Erzurum in Armenien, dass diese Spezialitäten Anfang des 20. Jahrhunderts auch in Shanghai Verbreitung fanden und heute immer noch von Chinesen geschätzt werden.

Bedros Tchakalian, so sein ursprünglich armenischer Name, ist der Ur-Ur-Großvater von Keziah und Noah Lazayres. Er wurde am 1. Oktober 1878 als Sohn von Krikor Tchakalian (siehe Artikel) in Erzurum geboren. Die Stadt liegt in der heutigen Türkei im westlichen Siedlungsgebiet der Armenier auf einem Hochplateau Anatoliens.

Einige besondere Umstände sorgten dafür, dass Bedros diesen langen Weg von seiner Heimat in Kleinasien bis an den Pazifischen Ozean erfolgreich absolvieren konnte. Die Stationen seiner Reise sind in dieser Karte eingetragen.

Ein großes Glück für seinen weiteren Lebensweg war seine Fähigkeit, leicht Sprachen zu erlernen. Bedros wuchs zweisprachig auf. Sein Vater Krikor, der eine Bäckerei besaß, erkannte die Begabung des Jungen und schickte ihn auf eine Schule. Wieder einem glücklichen Umstand ist es zu verdanken, dass auf Bitten des armenisch-katholischen Bischofs französische Ordensleute, die sog. Schulbrüder, 1884 in Erzurum eine katholische Schule errichteten. Vorwiegend armenische und griechische Familien schickten ihre Kinder auf diese Schule, die schon bald in der ganzen Gegend ein hohes Ansehen genoss.

Besonders zu seinem Lehrer Frère Paul entwickelte Bedros ein persönliches Verhältnis. Begeistert hörte er ihm zu, wenn Bruder Paul über ferne Länder sprach oder von der Weltausstellung in Paris erzählte, wo gerade ein gigantisches Gebäude, der Eiffelturm, errichtet wurde. Bedros war fasziniert von dieser ihm bisher fremden Kultur und Zivilisation. Als Fremdsprache wurde an der Schule Französisch gelehrt, eine Sprache, die ihm später noch sehr nützlich sein sollte.

Die Flucht nach Jekaterinburg/Russland

Pedros Odyssee begann im Jahre 1896, zu jener Zeit, als die ersten Massaker an den Armeniern, auch Hamidische Massaker, genannt, auf Veranlassung des Sultans Abdülhamid II. durchgeführt wurden. Sein Ziel war es, die alte Herrschaft der Moslems über die Christen wiederherzustellen. Am 30. Oktober 1895 erreicht der Terror auch Bedros Heimatstadt Erzurum.

Angesichts der bedrohlichen Lage schien für Pedros Onkel Antranik (Andreas) Tchakalian, ein Schuster, die Flucht unausweichlich. Bedros, der sich in seine Cousine Lucie, Antraniks und Olgas Tochter verliebt hatte, entschied sich schweren Herzens dazu, seine Eltern und seine Brüder Hagop und Boghos zurückzulassen und sich auf das gefährliche Abenteuer der Flucht einzulassen. Im Morgengrauen eines kalten Wintertages bestiegen die vier Flüchtlinge ein kleines Pferdefuhrwerk beladen mit ihren Habseligkeiten und verließen auf Säcken sitzend zusammen mit befreundeten Familien in einem kleinen Treck die Stadt.

Ihr Weg führte sie über das Gebirge in die Provinz Kars, die schon nicht mehr zum ottomanischen Herrschaftsgebiet gehörte, und an die Küste des Schwarzen Meeres. Bedros war fasziniert vom Treiben in der immer noch griechisch geprägten Hafenstadt Trapezunt.

Ein Schiff brachte die Geflüchteten nach einem Zwischenstopp in Batumi durch die Straße von Kertsch und das Asowsche Meer nach Rostow an der Mündung des Don. Wieder an Land setzten die Vier ihre beschwerliche Reise in einem Fuhrwerk fort. Über Wolgograd ging es über Samara nach Ufa. Im Frühjahr des Jahres 1897 erreichten sie nach über 2000 km die Stadt Jekaterinburg. Sie hatten Glück, denn sie trafen auf einen ihnen wohlgesonnen Geschäftsmann namens Vladimir, der alle mit Arbeit versorgte. Andranik übernahm eine komplett ausgestattet Schusterwerkstatt. Olga und ihre Tochter Lucie fanden Arbeit in einer Stickerei. Bedros, der nun Piotr gerufen wurde und ein wenig die russische Sprache beherrschte, erhielt von Vladimir den Auftrag, ein Lager zu verwalten und dort die Geschäfte für ihn abzuwickeln. Bedros und Lucie empfanden immer noch eine starke Zuneigung füreinander. Die Romanze fand jedoch ein jähes Ende, als Lucie insbesondere auf Betreiben ihrer Mutter mit dem russischen Geschäftsmann Victor verlobt wurde.

Bedros war todunglücklich. Da er auch mit seiner Arbeitssituation nicht besonders zufrieden war, wollte nur noch weg. So fügte es sich, dass ein entfernter Verwandter, Raffi, der in der Mandschurei eine Bäckerei betrieb, dringend um Hilfe gebeten hatte. Bedros wurde von seinem Chef Victor ermuntert, das Angebot anzunehmen. Mit einer stattlichen Abfindung verließ Bedros seinen Arbeitgeber und macht sich auf die weite Reise.

Umsiedlung nach Harbin/Mandschurei

Im Dezember 1898 bestieg Bedros dank Victors Hilfe, modisch als Gentleman gekleidet und mit einem Erster-Klasse-Ticket versehen den Zug der ostchinesischen Eisenbahn (Chinese Eastern Railway) Richtung Harbin, der Hauptstadt der Amur-Provinz in der Mandschurei. Die Route ging über Omsk,  den Ural, Irkoutsk und entlang des  Baikalsees.

Am Bahnhof wurde Bedros von der charmanten Tochter seines Cousins Raffin, Galina, abgeholt und von ihr mit seiner neuen Umgebung vertraut gemacht. Bedros wurde sofort betriebliche Verantwortung übertragen. Da Raffin wegen einer Krankheit ans Bett gefesselt war, musste Bedros sich um die geschäftlichen Abläufe von dessen Mühle kümmern. Das erste halbe Jahr ließ ihm die hohe Arbeitsbelastung kaum Zeit für andere Aktivität. Seine mangelnden Chinesisch-Kenntnisse erschwerten ihm seine Arbeit. Nach und nach eignete er sich die Sprache an und war schließlich in der Lage, sich gegenüber den Mitarbeitern verständlich zu machen. Einziger Lichtblick in diesem Arbeitsalltag waren die Besuche von Galina, die ihn mit allerlei Schabernack aufmunterte. Die beiden kamen sich immer näher und nutzten den Getreidespeicher für ihre Schäferstündchen, die sie vor Raffin verheimlichen mussten. Bedros stellte fest, dass ein chinesischer Mitarbeiter, Jiang, die Mehlsäcke als Transportmittel für einen schwunghaften Opiumhandel nutzte. Als Raffin davon erfuhr, entließ er fristlos den Chinesen, der mit Rache drohte und das Liebesverhältnis zwischen Galina und Bedros preisgab. Raffin, der von seiner Krankheit genesen war, schickte Bedros in Begleitung eines alten Chinesen weit weg von Galina in die tiefste Provinz, um Getreidelieferungen sicherzustellen. Als Bedros nach mehreren Monaten nach Harbin zurückkam, verbrachte er seine Abende in den Vergnügungsvierteln der Stadt. In einer Bar traf er den Franzosen Hubert, der als Vertreter der französischen Handelsgesellschaft mit Sitz in Shanghai „Mondon et Compagnie“ in der Stadt war. Huberts lebhafte Schilderungen von der fernen chinesischen Metropole, weckten in Bedros Neugier und Abenteuerlust.

In der Mühle kam es zur Katastrophe. Der gefeuerte chinesische Drogenhändler, Jiang, hatte seine Drohung wahr gemacht. Am Neujahrstag des Jahres 1901 ging die Mühle in Flammen auf und wurde restlos zerstört. Raffin, der Todesdrohungen erhielt, flüchtete mit Galina nach Wladiwostok, um sich eine neue Existenz aufzubauen.

Neuanfang in Shanghai

Bedros sah sich ebenfalls gezwungen die Stadt zu verlassen. Der Zweiundzwanzigjährige begab sich mit der trans-mandschurischen Eisenbahn in die Hafenstadt Dalian. Dort bestieg er ein japanisches Schiff, das im Frühjahr 1901 am Quai de France in Shanghai anlegte. Ein Teil der Stadt, das sog. „Konzessionsgebiet“, stand seit 1849 unter französischer Verwaltung.

In einer Rikscha ließ sich der Ankömmling durch das bunte Treiben in der Stadt ziehen, die aus einer Mischung von Fortschritt und Rückständigkeit geprägt war.

Beeindruckt stand Pierre vor dem prachtvollen Firmensitzes von „Mondon et Compagnie“. Pierre – wie er ab jetzt hieß – begab sich ausgestattet mit dem Empfehlungsschreiben seines Bekannten Hubert direkt zum Direktor,  Monsieur Mondon. Ein freundlicher Herr Mitte Fünfzig empfing ihn. Pierre konnte sein Glück kaum fassen. Er war nun Mitarbeiter eines der größten Geschäftshäuser in Shanghai Mondon et Co., das sich auf die Einfuhr von erlesenen Weinen und Champagner spezialisierte. Pierre gewann rasch das volle Vertrauen und die Freundschaft seines Chefs. Im Dezember 1903, Pierre war 24 Jahre alt. schickte ihn Monsieur Mondon nach Port-Arthur/Dalian, damit er sich der Probleme der dortigen Filiale annahm. Port-Arthur war damals noch unter russischer Kontrolle. Als Russland das Ultimatum Japans, die Mandschurei zu verlassen, ohne Reaktion verstreichen ließ, griffen die Japaner am 8. Februar 1904 ohne Kriegserklärung mit ihrer Flotte Port Arthur an. Die verbliebenen russischen Soldaten gingen in Kriegsgefangenschaft. Alle zivilen Personen, die sich noch in Port Arthur aufhielten, erhielten freies Geleit, so auch Pierre Tchakalian.

Aufbruch ins Ungewisse – Charkow

Nach zehn guten Jahren, im Februar 1911, verließ Pierre Shanghai, um seinen Chef Monsieur Mondon nach Paris zu begleiten, der auf seine Hilfe als Übersetzer angewiesen war. Zwei Wochen dauerte die Fahrt mit der transsibirischen Eisenbahn von Wladiwostok über Moskau nach Paris. Der plötzliche Tod Mondons am 10.7.1911 machte Pierres Pläne, in Europa Fuß zu fassen, zunichte. Er beschloss wieder nach Shanghai zurückzukehren. Einen Besuch seiner Eltern und Geschwister in der Türkei wäre zu risikoreich für ihn gewesen. Er unterstützte die Familie weiterhin mit Geldüberweisungen.

Auf der Rückreise lege er einen zweiwöchigen Zwischenstopp in Jekaterinburg ein, um seine Jungendliebe Lucie und seinen Onkel Antranik zu besuchen. Von seiner inzwischen verwitweten Bekannten Vera, mit der ein kurzes amouröses Abenteuer hatte, erfuhr Pierre, dass seine Verwandten nach Charkow weitergezogen sind.

Daraufhin begab er sich nach Charkow und verzichtet auf eine Weiterfahrt nach Shanghai. Im Dezember desselben Jahres 1911 heiratete er seine Jugendliebe Lucie, die inzwischen Witwe war.

Er gründete nicht nur eine Familie, sondern auch noch ein erfolgreiches Geschäft, eine Bäckerei. Ein Jahr nach der Hochzeit brachte Lucie ein totes Kind zur Welt und starb selbst bei der Geburt.

Bedingt durch die politischen Ereignisse im Nahen Osten flüchteten zahlreich Armenier ebenfalls nach Charkow, so dass dort eine aktive Migrantengemeinde entstand, in der auch Pedros Tchakalian verkehrte . Hier lernte er die Familie von Paul Amour und seine sieben Kinder kennen. Er verliebte sich in die älteste Tochter Jeanette Lucie. 1914 heiratete er die erst Zwanzigjährige.

Am 16.12.1915 erblickte ein Knabe das Licht der Welt: Georges Tchakalian.

Im Frühjahr 1918 musste die junge Familie Russland verlassen, denn es war zum Schauplatz des Bürgerkriegs zwischen Rotarmisten und weißen Russen geworden. Mit Frau und Sohn floh er in einem Viehwaggon nach Nowosibirsk. Auf Umwegen gelangt er und die Seinen nach Irkutsk. Insgesamt dauert die Reise bis nach Wladiwostok vier Wochen.

Rückkehr nach Shanghai

Mit nicht mehr als einem Koffer kamen die Flüchtlinge in Schanghai an. Pierre fand sich schnell in der ihm bereits vertrauten Umgebung zurecht. Er  nahm Kontakt zu alten Bekannten und Geschäftsleuten auf, so auch zu der „French Far East Commercial Company“, die seit 1913 eine Feinkostgeschäft mit dem Namen „Lo Da Tchang“ betrieb.  Dieser Name sollte bei der wohlhabenden chinesischen  Kunden  für die erlesenen  Konditor- und Backwaren Vertrauen erwecken. Pierre wurde die Leitung des Geschäftes übertagen. Mit dem ihm eigenem Fleiß betrieb er die Brotfabrik, die „Frenche Bakery“.

Zu Wohlstand gelangt, bezog die Familie ein Haus in einer guten Wohngegend in der „Rue Sieyès“, das genug Platz bot, für die schnell wachsende Familie. Seine Frau Jeanette Lucie gebar ihm drei weitere Söhne. Die Kinder, die im französischen Viertel von Shanghai aufwuchsen, sprachen fließend Französisch. Pierre ersehnte sich nichts mehr, als den Erwerb der französischen Staatsbürgerschaft. Sein Wunsch wurde am 20. Oktober 1932 erfüllt. Er träumte davon, seinen Ruhestand in Frankreich verbringen zu können.

Doch seine angegriffene Gesundheit hinderten ihn daran, die Umsiedlung der Familie nach Frankreich voranzutreiben. Die drei ältesten Söhne waren in Vietnam und besuchten dort französischsprachige Schulen. Den schwersten Fehler seines Lebens beging Pierre, indem er seine fast mittellosen Cousins zu Partnern machte. Seine Verwandten aus Erzurum  begaben sich 1896 – etwa zeitgleich wie Pierre –  auf die Flucht  quer durch Russland und China. Sie trafen ca. 1920 in Shanghai ein. Kabaret (Johannes) Tchakalian (geb. am 28.2.1890) und seine beiden Brüder führten nun die Bäckerei Tachkalian bis zu ihrer Emigration in die USA. Sie und ihre Familien reisten 1949 per Schiff  nach San Francisco, wo ihre Nachfahren noch heute leben, darunter auch Kabarets in Changhai geborener Sohn Samuel „Sam“,  ein namhafter Künstler.

Pierre hoffte, seine Cousins würden ihn im Unternehmen entlasten. Das Gegenteil war der Fall. Sie  bereicherten sich auf seine Kosten und drängten Pierre aus der Gesellschaft, auf deren Vorsitz er 1938 sogar verzichten musste. Glücklicherweise hatte seine Frau Jeanette finanzielle Reserven angelegt, die nach Frankreich transferiert werden konnten. Pierres Plan, mit Frau und jüngstem Sohn Henri Shanghai für immer zu verlassen, scheiterte, als im September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach. Die japanischen Invasoren brachten den Krieg auch nach Shanghai. Die Kriegswirren und die darauf folgende Inflation brachten die Familie fast an den Rand des wirtschaftlichen Ruins, dem sie dank des finanziellen Geschickes des jüngsten Sohnes Henri mit knapper Not entgingen.

Pierres Gesundheitszustand – er war an Syphilis erkrankt – verschlechterte sich so sehr, dass ihn Jeanette in das Krankenhaus Sainte-Marie einliefern lassen musste. Dort starb er am 21. Mai 1946. Bestattet wurde er auf dem Friedhof Pa Sin Jo im französischen Konzessionsgebiet. Als die Einnahme Shanghais durch die heranrückenden Truppen Maos drohte, begab sich Jeannette schweren Herzens im Januar 1947 mit ihrem Sohn an Bord des Schiffes  „André Lebon“ auf die Reise nach Marseille.

Sie überlebte Pierre um 11 Jahre und starb in Frankreich am 19.01.1957. Sie wurde in der Familiengruft in La Frette-Sur-Seine beigesetzt.

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