Libby (Luba) Sznajdman
Eine Großmutter väterlicherseits unserer Enkel Jaime und Ben Chaikel heißt Libby (Luba) Sznajdman (alias Schneidman). Ihre Vorfahren stammten aus dem Teil Polens, das nach der Teilung des Landes bis 1918 vom russischen Zarenreich kontrolliert wurde.
Libby wurde dort am 08.11.1925 in dem Ort Stoczek im Powiat Węgrowski der Woiwodschaft Masowien, 80 nordöstlich von Warschau und 20 km entfernt vom Vernichtungslager Treblinka geboren. Sie war eines der sieben Kinder von Zelda und Szaja Sznajdman. Ihre älteste Schwester Fajga wurde am 20.2.1918 geboren. Die anderen Geschwister hießen Nissel, Josek, Daniel, Eta und Malka (Milie) |
Ihre Eltern Szaja und Selda Sznajdman, (geb. 30.03.1898) stammten beide aus Stoczek. Selda war die Tochter von Srulke Sznajdman und Choszke Pososorski.
Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges am 1.9.1939 lebten etwa 3.000 Menschen jüdischen Glaubens in Stoczek. Das waren 75 % der Bevölkerung. Die Juden in Stoczek führten ein von Traditionen geprägtes religiöses Leben. Sie beachteten alte jüdischen Bräuche, die seit Generationen vom Vater auf den Sohn, von der Mutter auf die Tochter weitergegeben wurden. Es existierte eine aktive Gemeinschaft mit Synagogen und Gebetsräumen, soziale Einrichtungen, jüdische Schulen, Talmudschulen und kulturellen Begegnungsstätten.
Angehörige berichteten, dass es einen liebevollen, starken Zusammenhalt in der Familie Sznajdman gab. Sie genossen einen bescheidenen Wohlstand, der den Kauf guter Kleidung und leckeren Speisen ermöglichte. Dabei vergasen sie auch nicht, den Armen zu helfen, und befolgten das jüdische Gebot der Zedaka, der Wohltätigkeit für die Mittellosen.
Dieses Leben sollte sich schlagartig am 1. September 1939 mit dem deutschen Überfall auf Polen ändern. Zunächst wurde Stoczek bombardiert. Die Synagoge ging in Flammen auf. Glücklicherweise gelang es dem Rabbiner aus dem brennenden Gebäude die Tora-Rollen zu retten. Mehr als die Hälfte der Häuser wurde zerstört. Es gab viele Tode unter der Bevölkerung. Zahlreiche Bewohner wurden obdachlos. Nach dem Bombardement drangen deutsche Truppen in die Stadt ein und verbreiteten Angst und Schrecken. Sie plünderten Geschäfte und setzten das Zerstörungswerk fort. Sie beschlagnahmten Immobilien und verpflichteten jüdische Bürger zur Zwangsarbeit.
Am 17. September 1939 übernahm für wenige Wochen die Rote Armee die Kontrolle über das Gebiet. Jetzt bot sich für Zelda und Szaja Sznajdman eine Alternative zum Verbleib unter deutscher Herrschaft, nämlich die Flucht in die von Diktator Joseph Stalin beherrschte Sowjetunion. Sie machten sich keine Illusionen. Auch dort gab es antisemitischer Diskriminierung und antijüdische Verfolgung. Immerhin war es das geringere Übel. Um Leib und Leben zu retten, beschlossen Zelda und Szaja Sznajdman mit ihren sieben Kinder hinter die etwa 70 km entfernte Grenze zu Weißrussland zu fliehen.Der überstürzte Aufbruch unter chaotischen Bedingungen stellte sie vor große Herausforderungen. In aller Eile mussten sie den ihnen noch verbleibenden Besitz veräußern und transportable Wertgegenstände einpacken, um die Reise zu finanzieren. Schlepper, Helfer und korrupte Beamte waren zu bezahlen. Auch die Transportmittel kosteten Geld. Per Bahn, auf Pferdewagen oder zu Fuß bewegten sie sich nach Osten.
Sie entzogen sich mit ihrer Flucht der Verfolgung und ihrer Ermordung Treblinka, wo tausende Ihrer Mitbürger den Tod fanden.
Ende 1939 wurden nämlich alle in Stoczek verbliebenen Juden gezwungen, in das Ghetto der Stadt zu ziehen. Am 22. September 1942 wurde das Ghetto aufgelöst und alle Bewohner wurden in das Vernichtungslager Treblinka deportiert. Viele überlebten dieses Lager nicht.Libby Sznajdman und ihre Familie entgingen dank des engagierten Handelns ihrer Eltern diesem Schicksal. |
HIER RUHEN DIE KÖRPER DER JUDEN VON STOCZEK ERMORDET VON DEUTSCHEN FASCHISTISCHEN BANDITEN 1941 -1944 EHRET IHR ANDENKEN |
Nach einer langen und beschwerlichen Reise durch die unendlichen Weiten der Taiga schaffte es die Familie in das fast 3000 km entfernte Magnitogorsk, eine Industriestadt am Fuß des Uralgebirges an der Grenze zu Kasachstan.
Ein von Stalin aus dem Boden gestampftes ehrgeiziges Industrieprojekt hatte gigantische Ausmaße. Das aus den umliegenden Minen geförderte Magneteisenerz, Magnetit, das der Stadt ihren Namen gab, wurde in den zahlreichen Stahlwerken verarbeitet. Ihre Schlote verpesteten mit ihren Emissionen die Luft und verwandelten die Stadt in ein schmutziges finsteres Etwas. Wegen des Krieges lief die Produktion für Waffen auf Hochtouren. Da man unzählige Menschen brauchte, die fast pausenlos in drei Schichten arbeiteten, fanden auch viele der Zigtausend jüdischen Flüchtlinge dort Verwendung. Libbys Vater, ein gelernter Schlachter, konnte in einer Fleischfabrik arbeiten. Joseks Frau Ida wurde als Schweißerin ausgebildet und arbeitete in einem Stahlwerk.
Nach einer langen Flucht traf 1943 Simon Chaikel, der aus Galizien geflohen war, in Magnitogorsk ein. Er und die neunzehnjährige Libby Sznajdman lernten sich kennen und heirateten 1944. Am 10.06.1945 wurde ihr Sohn Nissel (Neil) geboren, der spätere Großvater unserer Enkel Jaime und Ben Chaikel.
Libbys Schwester Faiga (linkes Bild) arbeitete als Taschenmacherin. Schweißerin im Stahlwerk. Schon bald nach ihrer Ankunft 1940 machte sie die Bekanntschaft eines Juden namens Mindelson. Am 31.10.1941 wurde ihre Tochter Etta Mindelson geboren. |
Einen Monat nach Ende des Zweiten Weltkrieges im Juli 1945 vereinbarten die Sowjetunion und die provisorische polnische Regierung die Möglichkeit der Rückkehr für polnische und jüdische Migranten aus der UdSSR nach Polen
Familie Sznajdman wollte – wie die überwältigende Mehrzahl polnischer Juden – nach den schlimmen Erfahrungen mit dem stalinistischen Unterdrückungsapparat die Sowjetunion eher heute als morgen verlassen.
In einem Transportzug wurden sie in die vormals deutsche Provinz Niederschlesien gebracht, die jetzt zu Polen gehörte. Die deutsche Bevölkerung war in kürzester Zeit vertrieben worden. Dort sollten 83.000 aus der Sowjetunion repatriierte polnische Juden eine neue Heimat finden. Die Idee des gesamtpolnischen jüdischen Komitees war es, dort nach dem Holocaust wieder ein autonomes Zentrum jüdischen Lebens entstehen zu lassen.
Libby Sznajdman mit all ihren Verwandten kamen im Frühjahr 1946 in die wenig zerstörte niederschlesische Stadt Waldenburg, jetzt Wałbrzych. Ihnen wurde ein schönes großes Haus mit mehreren Wohnungen zugewiesen, wo sie alle gemeinsam unterkamen.
Schon bald nach der Ankunft in Waldenburg bekamen Libbys Bruder Josek und Ida (Etka) Kohn (Ha Cohenam) am 07.06.1946 ihren Sohn Daniel.
Viele Polen fühlten sich im stalinistisch geprägten neuen polnischen Staat, der nicht frei war von Antisemitismus, unwohl. Angesichts dieser politischen Umstände waren die Neuankömmlinge offen für die Botschaft zionistischer Organisationen, die massiv die Werbetrommel rührten für den Aufbruch in eine neue Heimat in Palästina, das 1948 zu Israel wurde.
Die noch offenen polnischen Grenzen ermöglichte eine Immigration nach Westen. Nach nur wenigen Monaten in Niederschlesien im Sommer 1946 ergossen sich große Flüchtlingsströme in die amerikanische Besatzungszone in Deutschland.
Am 18. August 1946 wurden die Sznajdmans und ihre Angehörige in der grenznahen Stadt Hof in Franken/Bayern in einem der sog. DP-Lager untergebracht. Sie waren eigens für heimatlose Flüchtlinge, für sog. „Displaced Persons“ (DP), eingerichtet. Bis Mitte 1947 existierten knapp 800 DP-Lager in den westlichen Besatzungszonen.
Libbys Bruder Nissel und seine Frau Chana Lopata, die wie er aus Stoczek stammte, befanden sich am 12.10.1946 in dem jüdischen DP-Lager Kassel-Hasenhecke. Dort wurde am 25.11.46 ihre Tochter Brucha geboren.
Libbys Eltern und ihre Kinder Nissel, Josek und Eta wanderten Anfang 1949 nach Israel aus. Joseks Frau Ida, die in Russland als Schweißerin ausgebildet war, arbeitete in der Negev-Wüste an Wasserleitungen. Wegen der schwierigen Lebensverhältnisse und des Klimas verließen Joseph (Josek) Sznajdman und seine Familie Israel und wanderten nach Kanada aus. Joseph, der wie sein Vater Schlachter war, gründete 1957die Fleischerei „Jadee Meats“ als kleine Familienmetzgerei in London, Ontario. Später expandierte das Unternehmen mit Standorten in Hamilton, St. Thomas und Süd-Ontario. Heute wird das Unternehmen von seinen Enkelsöhnen geleitet.
Ida und Joseph Sznajdman
Libby Sznajdman, Simon Chaikel und Sohn Nissel (alias Neil) waren zuletzt im Lager Lechfeld registriert. Am 22.4.1950 wurde ihre Einreise in die USA genehmigt. Am 2. Januar 1951 immigrierte Libby nebst Mann und Sohn in die Vereinigten Staaten. In Bremerhaven gingen sie an Bord des Transportschiffes der amerikanischen Marine USS General Howze.
Zeitgleich immigrierten Lubas älteste Schwester Fajga Mindelson mit ihrer in Russland geborenen Tochter Etta Mindelson auf dem Transportschiff der amerikanischen Marine USS General Stewart. Ihr späterer Ehemann Zalek Popiel, den sie im Lager kennenlernte, folgte ihnen am 16.4.1951 auf dem Kriegsschiff USS General Blatchford. Zalek, der viele Jahre in Arbeitslagern verbrachte, war Witwer. Seine Familie lebte im Dorf Ropa bei Grybow. Dort gab es 360 jüdische Opfer, die am 20. August 1942 von Nazis umgebracht wurden. Die erste Frau Zaleks und seine Kinder waren unter den Ermordeten.1951 heiratete er in New York Feiga Sznajdman. Sie bekamen zwei Töchter.
Libby Chaikel starb am 29.09.1996 im Alter von 70 Jahren in Fort Lauderdale, Florida.