Ferdinand Neubauer – SS-Mann und Jurist

Haus Mauerstraße 23, Weilburg/Lahn – Unrecht in brauner Zeit

„Entjudung“ und „Arisierung“, sind Wortschöpfungen aus dem nationalsozialistischen „Wörterbuch des Unmenschen“. So nannten nämlich die Nazis beschönigend die Bereicherung an jüdischem Eigentum durch eine Quasi-Enteignung während ihrer Herrschaft.

Helene Schroeter war die Halbschwester meiner Schwiegermutter Anneliese Schroeter. Während Anneliese eine ablehnende Haltung zum Nationalsozialismus einnahm, wurde ihre Schwester zur bekennenden Anhängerin Adolf Hitlers. Die Direktionssekretärin Helene Schroeter war seit Anfang 1928 mit dem am 12.9.1904 in Limburg geborenen Jurastudenten Ferdinand Neubauer liiert.

Der angehende Jurist, damals noch Referendar, trat drei Monate nach der sog. Machtergreifung am 1. Mai 1933 in die NSDAP ein und erhielt die Mitgliedsnummer 3.495.239. Vergeblich verlangte Neubauer von der Gauleitung Hessen-Nassau eine Rückdatierung seiner Mitgliedschaft auf die Zeit vor der Machtergreifung. Offensichtlich versprach er sich davon den Vorteil, nicht zu den „Opportunisten“ gezählt zu werden, die 1933 scharenweise in die Partei eintraten, weil sie sich davon persönliche Vorteile versprachen.

NS-Veranstaltung in Weilburg, 1938

Fast zeitgleich, am 17.4.1933, trat Ferdinand Neubauer in die Sturmstaffel (SS) ein. Im Laufe der Zeit stieg er in der Weilburger SS-Einheit 8/78 zum Rang eines SS-Rottenführers auf. Mitte 1938 war er Unterscharführer des 3. SS-Pionier-Sturmbanns. (Unterscharführer war der niedrigste Rang der Dienstgradgruppe der Unteroffiziere.)

Aufmarsch der SA in Weilburg 1938

Am 1.12.1935 nahm er als selbständiger Rechtsanwalt und Notar seine Tätigkeit in Weilburg auf.

Familie Kirchberger – Jüdisches Leben in Weilburg

In Weilburg gab es eine aktive jüdische Gemeinde, die sich bereits seit 1845 in einer eigenen Synagoge versammelte. Diese Gemeinde war viele Jahrzehnte lang ein integrales Element des bürgerlichen städtischen Lebens Weilburgs. Zahlreiche jüdische Mitbürger – Frauen wie Männer – engagierten sich in Vereinen und Ehrenämtern, so auch der Kaufmann und Lebensmittelgroßhändler Theodor Kirchberger (geb. 1849).  Theodor Kirchberger war Ehrenmitglied der Weilburger Bürgergarde und hielt alljährlich Ansprachen bei der Weilburger Kirmes. Auch war er Ehrenmitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), eine Partei der bürgerlichen Mitte. Seine Ehefrau Charlotte Kirchberger, war von 1914 bis 1932 stellvertretende Vorsitzende des Krankenpflegevereins.

Die Kirchbergers wohnten im Haus Mauerstraße 23. Dieses stattliche Gebäude, das heute unter Denkmalschutz steht, gehört zu einem architektonischen Ensemble im Umfeld des Weilburger Schlosses. Es wurde 1710 im barocken Stil errichtet vom Hofbaumeister des Grafen Johann Ernst von Nassau-Weilburg (1675–1719) Julius Ludwig Rothweil.

Seit 1797 war das Anwesen Stammhaus der jüdischen Familien Herz bzw. Kirchberger. Der vermögende Spezereien- und Brandweinhändler Meyer Herz, Sohn des jüdischen Hofbankiers Salomon Herz aus Weilmünster (Kreis Limburg-Weilburg), erwarb das Haus vom Hofkammersekretär Petsch. Der Schwiegersohn von Meyer Herz, Abraham Kirchberger, Vater von Charlotte Kirchberger, wohnte ab 1853 in diesem Gebäude in der Mauerstrasse 23 und führte das Geschäft der Familie weiter.

Judenverfolgung in Weilburg

Bald schon nach der sog. „Machtergreifung“ Adolf Hitlers mussten in Weilburg die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger Schikanen übelster Sorte ertragen. Durch Boykottaufrufe und Ausschluss aus den Vereinen drängte man sie aus dem öffentlichen Leben und schadete ihnen wirtschaftlich. Bereits 1933 setzte die sukzessive Abwanderung jüdischer Familien ein.

Gedenktafel für ehemalige jüdische Bürger Weilburgs

Auch Charlotte Kirchberger entschloss sich zu diesem Schritt. Sie ließ ihren Besitz in Weilburg zurück und zog 1936 zu ihrer Tochter Hedwig Hellmann nach Aachen und 1938 zu ihrem Sohn Dr. Paul Kirchberger nach Berlin – Nicolassee, der dort als Wissenschaftler tätig war. So musste sie die Gewaltausbrüche der Pogromnacht am 10. November 1938 gegen die noch wenigen verbliebenen Weilburger Juden nicht miterleben.

Trotz ihrer Abwesenheit wurde Charlotte Kirchberger wie fünf weitere Weilburger Juden nach dem Novemberpogrom zu einer sog „Sühneleistung“ gezwungen. Diese sechs Familien mussten zusammen 47.500 RM als Judenvermögensabgabe entrichten, im Schnitt also 8000 Reichsmark pro Familie. Die Kaufkraft dieser Summe entsprach in etwa 35.000 € heute.

Bankguthaben und Wertpapierdepots in Höhe von ca.100.000 Reichsmark wurden ebenfalls beschlagnahmt. Diese Summe hatte in etwa einen Gegenwert von 460.000 €. Also wurden pro Familie noch einmal durchschnittlich 75.000 € vom NS-Staat eingezogen.

Nicht zuletzt auch um diese diskriminierenden Zwangsabgaben zu bezahlen, sah sich Charlotte Kirchberger genötigt, ihr Haus in der Mauerstraße 23 zu verkaufen.

Sogenannte „Arier“ nutzten die Notsituation der Juden aus, günstig Eigentum zu erwerben. Wegen eines Überangebots an Immobilien aufgrund des durch die Verfolgung ausgelösten Verkaufszwang waren die Immobilienpreise auf einem Tiefststand.

In vielen Fällen nahm die NSDAP, insbesondere die Gauleitung, Einfluss auf den Kaufpreisgestaltung und auf die Auswahl der Käufer. „Verdiente Parteigenossen“ wurden protegiert.

Deshalb war es auch nicht verwunderlich, dass Haus Mauerstrasse 23 am 15.8.1939 dem Parteigenossen und SS-Unterschafführer Ferdinand Neubauer überschrieben wurde. Für den gelernten Notar war es sicher nicht von persönlichem Nachteil, dass er außerdem Fachmann für die Ausgestaltung von Kaufverträgen für die Übertragung von Grunderwerb war. Der Einheitswert des Grundstücks, festgesetzt am 1.1.1935, betrug 14.600 Reichsmark (67.000 €). Ferdinand Neubauer zahlte einen Kaufpreis deutlich unter diesem Einheitswert.

Das Schicksal der Charlotte Kirchberger

Charlotte Kirchberger, deren Familie eng mit dem Leben in Weilburg verbunden war und die sich immer als Deutsche fühlte, konnte nie begreifen, dass sie und ihre Kinder nach der Machtergreifung durch den Nationalsozialismus plötzlich nicht mehr zur Volksgemeinschaft dazugehören sollten.

Familiengrab der Familie Kirchberger

1942 fingen die Nazis an die noch in Berlin verbliebenen älteren Juden in das Konzentrationslager Theresienstadt in Böhmen zu deportieren. Für viele von ihnen war dieses Lager die letzte Station auf dem Weg in ein Vernichtungslager. Vergeblich versuchten ihr Sohn Paul und ihre Freunde der Neunundachtzigjährigen, die für einen Transport 8.9.1942 vorgesehen war, dieses Leid zu ersparen.  Am Vorabend der Deportation entzog sie sich nach einem langen Gespräch mit ihrem Sohn Paul durch eine Überdosis Schlaftabletten dem ihr zugedachten Schicksal.

Durch die Vermittlung einer befreundeten Familie in Weilburg, wurde die Beisetzung ihrer Urne im Familiengrab auf dem neuen Friedhof von Weilburg von den Behörden gestattet. Dem Sohn Paul Kirchberger war es möglich eine ergreifende Traueransprache zu halten, die überliefert ist.

Besucher des Weilburger Friedhofs können feststellen, dass die letzten Ruhestätten der Ehepaare Kirchberger und Neubauer nur wenige Meter voneinander entfernt liegen.

Rückgabe und Entschädigung von jüdischem Eigentum

Nach dem Krieg setzten Amerikaner als erste Siegermacht in ihrer Besatzungszone Restitutionsansprüche durch. Hierzu erließen sie am 10. November 1947 das Gesetz Nr. 59 der Militärregierung.  Demnach waren unter anderem alle Rechtsgeschäfte anfechtbar die möglicherweise unter Ausnutzung eine Zwangslage zustande kamen. Diese Eigentümer wurden rückersattungspflichtig.

So auch Ferdinand Neubauer. Da er das Anwesen der Kirchbergers in der Mauerstrasse 23 behalten wollte, musste er es neu erwerben. Der früher bezahlte Kaufpreis wurde nur unvollständig angerechnet – gekürzt um Miet- oder Pachtansprüche und abgewertet im Verhältnis 1 zu 10 (Umrechnungskurs DM zur RM). Wieviel Ferdinand Neubauer den Erben der Familie Kirchberger letzten Endes zahlen musste ist nicht bekannt.

 

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