(Die nachfolgenden persönlichen Schilderungen basieren auf Aussagen Simon Chaikels, die er in einem zweistündigen Interview gemacht hat. Im Vorfeld zu den Dreharbeiten zu Spielbergs Spielfilm „Schindlers Liste“ (1993) wurden zahlreiche Holocaustüberlebende befragt. Alle so entstanden Videos befinden sich In den Archiven der USC Shoah Foundation und sind der Öffentlichkeit zugänglich. Dieselben Filmdokumente sind ebenfalls in der Freien Universität Berlin (FU) online verfügbar.)
Simon Chaikels Odyssee (1) – Flucht aus Galizien
Das Leben des jungen Simon Chaikel wurde zum Spielball der Weltpolitik. An seiner Odyssee durch Europa bis nach Amerika in der Zeit von 1939 bis 1951 lassen sich zahlreiche einschneidende Ereignisse des Zweiten Weltkrieges und seiner Folgen verdeutlichen.
14.05.1918 wurde Simon als Sohn der jüdischen Eheleute Joseph Gruber und Berta Chaikel in Lisznia/Drohobycz in Ostgalizien geboren. Er hatte drei Geschwister: Herschel „Zwi“ (Henry) (geb. 1922), Geitel und Feiga.
Simon wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf. Sein Vater arbeitete in den 15 km vom Wohnort entfernten Ölförderanlagen von Boryslaw, die wegen der harten Lebensbedingungen für die Arbeiter auch die “Hölle Galiziens” genannt wurden. Dort hatte der Öl-Boom Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen. So sehr sich der Vater auch anstrengte, lebte die Familie weiterhin unter der Armutsgrenze. Für den begabten Simon war eine kostenpflichtige höhere Schulbildung nicht möglich. Mit 13 Jahren musste er die Dorfschule verlassen und in der nahen Stadt Drohobycz eine Lehre als Schneider beginnen Während der drei Lehrjahre gab es keinen Lohn. Von seinem nebenher verdienten ersten Geld konnte er sich ein Fahrrad kaufen. Aufnahme 1936 auf der Hauptstraße von Drohobycz. |
1939 Kriegsbeginn
Am 1. September 1939 überfielen deutsche und russische Truppen Polen. Gemäß den Absprachen im Hitler-Stalin-Pakt teilten sich die Aggressoren das polnische Staatsgebiet untereinander auf. Eine Demarkationslinie zerschnitt nun von Norden nach Süden verlaufend Polen in zwei Hälften. Teile Ostgaliziens also auch Simons Heimatstadt Drohobycz gerieten zu Kriegsbeginn für kurze Zeit unter deutsche Kontrolle. Die Söhne Joseph Grubers, Simon und Herschel, wurden von den Deutschen verhaftet und in ein Zwangsarbeitslager gebracht. Dort wurden sie beim Ausbau einer Straße in der Nähe von Przemysl als Arbeitssklaven eingesetzt. Die Bewacher in dem Barackenlager waren ukrainische Milizen. 1940 gelang den beiden Brüdern unter lebensbedrohlichen Bedingungen die Flucht. In mehreren Tagesmärschen schlugen sie sich bis nach Lisznia zu ihrem Elternhaus durch.
Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 23. Juni 1941 wurde Ostgalizien in das sog. Generalgouvernement eingegliedert und von deutschen Truppen besetzt, die eng mit ukrainischen Milizen kooperierten.
Simon versuchte angesichts der Bedrohung jüdischen Lebens, seinen Vater Joseph zur Flucht zu überreden. Dieser war nicht bereit, seinen Besitz, den er so mühsam aufgebaut hatte, einfach aufzugeben. Er blieb zurück mit seiner Ehefrau Berta und den beiden Töchtern, die noch im Kindesalter waren. Diese Entscheidung war für Joseph fatal. Der Familienvater wurde beim Verhör nach dem Verbleib seiner Söhne von der ukrainischen Hilfspolizei ermordet, so berichtet es sein Sohn Simon. Demnach gehörten im Februar 1943 auch seine Mutter und die beiden Schwestern zu den etwa 450 Juden, die im Wald von Bronicki erschossen und in Massengräbern verscharrt wurden.
Simon und „Zwi“ (Herschel) gelang die Flucht. Sie schlossen sich der Roten Armee an, die angesichts der vorrückenden deutschen Wehrmacht immer weiter nach Osten zurückwich. So gelangten Simon und Zwi in der Zeit zwischen Sommer 1941 und Sommer 1942 über Rostow nach Stalingrad. Dort schlugen sie sich unter schwierigsten Bedingungen mit Gelegenheitsarbeiten durch, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Als im September 1942 die Wehrmacht Stalingrad immer näherkam, war Simons Leben wieder in Gefahr. Der Zufall wollte es, dass er in Kontakt kam mit einem vermögenden Arzt und einem Anwalt, die wie er auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit waren. Der russischen Sprache mächtig, gelang es Simon mit dem Geld seiner neuen Bekannten, einen Fluchthelfer zu bezahlen, der ihnen die Reise nach Magnitogorsk ermöglichte. Die „Währung“ mit der sie den Schlepper bezahlten war Wodka. Auch diesen organisierte Simon.
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