Simon Chaikels Odyssee (3) – 1946 Repatriierung nach Niederschlesien

Breits vier Wochen nach Kriegsende im Juli 1945 vereinbarten die Sowjetunion und die provisorische polnische Regierung für polnische und jüdische Migranten in der UdSSR die Möglichkeit der Rückkehr nach Polen

Simon und seine Familie wollten – wie die überwältigende Mehrzahl polnischer Juden – nach den schlimmen Erfahrungen mit dem stalinistischen Unterdrückungsapparat die Sowjetunion eher heute als morgen verlassen. Quälend lange kamen ihnen die vielen Monate vor, die zwischen ihrer Antragsstellung auf Repatriierung lagen bis zum tatsächlichen Start der insgesamt 124 Transportzüge nach Polen in der ersten Jahreshälfte 1946.
Sie bestiegen den Zug nach Westen ohne genau zu wissen, wo die 2500 km lange Reise genau hingehen würde. Ihre Hoffnung, wieder in die alte Heimat zu gelangen, war verflogen. Auf der einige Wochen dauernden Fahrt unter äußerst harten Lebensbedingungen, hatten sie Zeit darüber nachzudenken, wo zukünftig ihr Lebensmittelpunkt sein sollte. Ihnen war klar, dass der Krieg nicht nur ihre ehemaligen Häuser zerstört, sondern auch ihre Familien und die Dorfgemeinschaften ausgelöscht und außerdem die Landesgrenzen verschoben hatte. Es war also unmöglich wieder in die alte Heimat zurückzukehren.

Stalin hielt den 1939 annektierten östlichen Teil Polens weiter besetzt und ließ die polnische Bevölkerung umsiedeln in die ehemaligen deutschen Ostgebiete, die durch die Verschiebung der Westgrenze nun an Polen fallen sollten.

Im großen Stil fand eine äußerst inhuman verlaufende „ethnische Säuberung“ statt. Die polnischen Familien mussten ihre Häuser auf russischem Territorium verlassen und wurden in die vormals deutschen Gebiete umgesiedelt.

 

Die dort lebenden Deutschen wurden gemäß einer Vereinbarung, die Stalin mit den beiden Westalliierten getroffen hatte, systematisch vertrieben. Ab dem 14.02.1946 wurden unter der Regie der Briten in einer fünf Monate dauernden chaotischen Aktion, „Operation Schwalbe“ genannt, über eine Million Menschen aus ihren Wohnungen getrieben und in Güterzügen in die Britische Besatzungszone deportiert. Alles musste sehr schnell gehen, denn die Massen an Umsiedlern aus vormals Ostpolen einschließlich der jüdischen Repatrianten aus der UdSSR sollten umgehend die Häuser der Deutschen und die von ihnen bewirtschafteten Höfe übernehmen.

Etwa 83.000 aus der Sowjetunion repatriierte polnische Juden, so der Wunsch des gesamtpolnischen jüdischen Komitees, sollten schwerpunktmäßig in Niederschlesien angesiedelt werden. Es bestand die Utopie, nach dem Holocaust in diesem Gebiet wieder ein autonomes Zentrum jüdischen Lebens entstehen zu lassen.

Als Simon, Libby und der einjährige Nissel mit all ihren Verwandten im Frühjahr 1946 in der wenig zerstörten niederschlesischen Stadt Waldenburg, jetzt Wałbrzych, ankamen, wurde ihnen ein schönes großes Haus mit mehreren Wohnungen zugewiesen, wo sie alle unterkamen. Simon hatte den Eindruck, dass es gerade erst von seinen deutschen Bewohnern fluchtartig verlassen sein musste, denn die Schränke waren voller Lebensmittel, und auf dem Tisch stand noch das Essen für die nächste Mahlzeit.

Schon bald nach der Ankunft in Waldenburg kam am 07.06.1946 Libbys Neffe Daniel Snajdman auf die Welt. Simon vermisste seinen über alles geliebten Bruder Zwi so sehr, dass er sich mit dem neu erworbenen Fahrrad und per Bahn auf die Suche nach ihm machte. Seine wochenlangen Bemühungen waren schließlich erfolgreich. Bei ihrer ersten Begegnung in einer niederschlesischen Stadt fiel die Umarmung der beiden Brüder so heftig aus, dass Simon der Ehering von der Hand fiel.

Für die Familie hätte sich eigentlich in Niederschlesien ein gedeihliches Leben in einer jüdischen Gemeinschaft bei gesicherter Arbeit, z.B. im Bergbau, und ausreichend Wohnraum ergeben können.

Der Traum vom Aufbau einer gesicherten Existenz in Polen verflog jedoch rasch. Der stalinistisch geprägte neue polnische Staat erinnerte zu sehr an das Terrorregime, das sie gerade verlassen hatten. Schon bald mussten sie feststellen, dass die sich neu etablierende Gesellschaft nicht frei war von Antisemitismus. Als Juden erfuhren sie Ablehnung, fühlten sich ausgegrenzt und waren im schlimmsten Fall auch gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt. Individuelle Freiheit war hier nicht zu verwirklichen. Angesichts dieser Umstände waren die Neuankömmlinge offen für die Botschaft zionistischer Organisationen, die massiv die Werbetrommel rührten für den Aufbruch in eine neue Heimat in Palästina, dann ab 1948 Israel.

Noch waren die polnischen Grenzen offen, so dass einer Emigration nichts im Wege stand. Nach nur wenigen Monaten im Sommer 1946 verließen massenweise jüdische Flüchtlinge Niederschlesien; darunter auch Simon und alle seine Angehörigen. Sie überquerten die grüne Grenze und begaben sich auf den schwierigen Weg durch die Tschechoslowakei nach Deutschland, in die amerikanische Besatzungszone.

Fortsetzung hier

 

Translate »