Simon Chaikels Odyssee (2) – 1943 bis 1946 MAGNITOGORSK

Simon erreichte die gigantischen Industriestadt Magnitogorsk am Ural, die Stalin seit 1929 in der Nähe von Erzlagerstätten errichten ließ. Simons erster Arbeitsplatz war naturgemäß am Hochofen einer der zahleichenen Eisenhütten. Unter Hochdruck wurde dort der für die Rüstungsindustrie dringend benötigte Panzerstahl produziert. Simon litt sehr unter den harten Arbeitsbedingungen. Beim Beschicken der Hochöfen war der gelernte Schneider extremer Hitze, Lärm und Gestank ausgesetzt. Einen solch kriegswichtigen Arbeitsplatz zu verlassen, war nicht einfach. Er machte die Bekanntschaft eines anderen geflüchteten Juden, der eine Textilfabrik leitete. Simon erhielt von ihm ein Dokument, das ihn von der Arbeit im Stahlwerk freistellte und den Wechsel in die Textilindustrie erlaubte. Man nannte das Protekcja, dt. Protektion. Nach Simons Auskunft war es unmöglich in Russland etwas auf dem legalen Weg zu erreichen. Ohne Protektion war man verloren. Die Cleversten hatten die besten Chancen in diesem System zu überleben.

An Lebensmittel konnte man oft nur gelangen, wenn man sie irgendwo „abzweigte“. Dabei lief man Gefahr wegen Lebensmitteldiebstahls für ein Jahr nach Sibirien in einen GULAG geschickt zu werden. Das Überleben unter diesen Bedingungen war sehr schwer. Neben der Arbeit bestand seine Hauptbeschäftigung darin, die tägliche Mahlzeit zu beschaffen. Angesichts der prekären Ernährungslage ging es vielen Russen sehr schlecht. Simon konnte beobachten, wie Menschen in Mülleimern nach Essen suchten oder das Gras am Wegesrand aßen.

Nicht weniger schlimm waren die Wohnverhältnisse in Magnitogorsk. Wegen des Wohnungsmangels musste Simon sich einen Raum in einer strohbedeckten Lehmhütte mit zwanzig Menschen teilen. In der engen Behausung schlief er in einem der dreistufigen Etagenbetten. Die hygienischen Verhältnisse waren verheerend. Immer wieder musste Simon sich gegen Ungeziefer desinfizieren lassen. In den langen, harten Wintern fiel die Temperatur nicht selten unter minus 15 Grad.

Hinzu kam die Angst vor der stalinistischen Geheimpolizei, vor deren Terror niemand sicher war. Simons spätere Schwägerin Fajga wurde wegen angeblicher antikommunistischer, staatsfeindlicher Äußerungen verhaftet. Sie wurden tagelang verhört und dabei misshandelt. Ihr drohten zehn Jahre Lagerhaft. Glücklicherweise entging sie dem Schicksal vieler anderer, die in abgelegene Gegenden der UdSSR verschleppt und dort unter unmenschlichen Bedingungen als Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Nur dank seines starken Überlebenswillens, so berichtete Simon, konnte er unter diesen Bedingungen existieren.

Wie er flohen seit Kriegsbeginn 230.000 polnische Juden vor den nationalsozialistischen Verfolgern ins Innere der Sowjetunion und konnten so den Zweiten Weltkrieg hinter den Frontlinien überleben. Unter diesen Geflüchteten in Magnitogorsk war auch Luba (Libby) Snajdman (Schneidmann), aus Stoczek (Powiat Węgrowski) im Nordosten Polens, Simons künftige Ehefrau. Sie war eines der sieben Kinder von Zelda und Szaja Schneidmann, denen allen die Flucht nach Magnitogorsk gelang. 1944 heiratete Simon die Neunzehnjährige. Immerhin konnte Simons Schwiegervater, ein gelernter Schlachter, der in einer Fleischfabrik arbeitet, einen angemessenen Hochzeitsbraten organisieren. Im Sommer des nächsten Jahres wurde der gemeinsame Sohn Nissel (Neil) geboren. In Magnitogorsk harrte die Großfamilie bis zu ihrer gemeinsamen Rückführung nach Polen im Jahre 1946 aus.

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