Eine neue Heimat am Ende der Welt – Australien
Drei Wochen waren Lucy und Erwin Kifferle auf der Queen Elisabeth unterwegs, bis endlich wieder Land in Sicht war. Inzwischen war bei den Passagieren des Kreufahrtschiffes durchgesickert, dass sie sich auf der Überfahrt nach Australien befänden. Am 23. August 1941 näherte sich das Schiff dem Festland des fünften Kontinents. Vom Deck aus konnten Lucy und Erwin nun die exotische Landschaft der Küste ihrer zukünftigen Heimat bewundern. Zahlreiche Buchten mit Sandstränden reihten sich aneinander. Die Ufer waren dicht bestanden mit Palmen und anderen subtropischen Pflanzen.
Die australische Küste
|
Eine Nacht noch hatten sie an Bord des Schiffes, das vor dem Hafen Sydneys ankerte, zu verbringen. Am nächsten Morgen marschierten sie über eine Landungsbrücke von der Queen Elizabeth und stiegen gruppenweise in kleine Boote. Darin schipperten sie unter dem Wahrzeichen Sydneys, der Harbour Bridge, hindurch auf die Großstadt zu. Am Bahnhof wartete bereits ein recht komfortabler ausgestatteter Zug auf sie, in dem sie die Weitereise mit unbekanntem Ziel antreten mussten.
Die Harbour Bridge von Sydney
Im Vorbeifahren blickten sie vom Zugfenster aus auf die Häuser Sydneys mit ihren gepflegten Gärten. Außerhalb der Stadt wechselten sich die Landschaftstypen häufig ab. Auf bewaldete Flächen folgte Weide- und Ackerland mit kleinen Farmen. Auf der Fahrt durch das australische Buschland sahen sie zu ersten Mal in ihrem Leben Eukalyptusbäume. Nach einer Nachfahrt erreichten sie das 700 km von Sydney entfernte Städchen Tocumwal an der Grenze zur Provinz Victoria. Dort überquerten sie den Murray-River und fuhren in einem andren Zug nach Shepparton, wo sie Verpflegung erhielten. Die Bahnreise endete in Rushworth. Hier warteten Busse auf sie, die sie zu ihrem endgültigen Ziel, dem Internierungslager Tatura im Goulburn Valley bringen sollten.
Am Spätnachmittag des 25. August erreichten sie das Tor des mit Stacheldraht eingezäunten Lagers. Beim Anblick der Wachtürme, Scheinwerfer und schwer bewaffneten Wachmannschaften befiel Lucy und Erwin ein beklemmendes Gefühl. Zwei kleine Räume in einer der zahllosen sich aneinanderreihenden Wellblechbaracken wurden ihnen zugewiesen. Diese spärlich eingerichtete Behausung sollte ab nun für mehrere Jahre ihre Bleibe sein. Ein mit Maschendraht überzogener Holzrahmen, auf dem ein Strohsack lag, war ihr Bett.
In den kalten Nächten froren sie manchmal, trotz der vorhanden Armeedecken, denn die unisolierten Blechwände hielten die Kälte nicht richtig ab. In diesen Nächten, wenn sie wach lagen, fragten sie sich, wieso sie als Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland solch ein Leben wie Strafgefangene verdient hätten. Als besondere Zumutung mussten sie das Agieren der Templer empfinden. Die Angehörigen dieser evangelikalen Sekte, die größtenteils überzeugte Nationalsozialisten waren, richteten in ihrem Lager eine regelrechte Parteiorganisation ein. Sie veranstalteten nationalsozialistische Abendfeiern, bildeten Hitlerjugendgruppen für Jungen und Mädchen. Der Chef des Lagers war ein überzeugter Anhänger Adolph Hitlers. Die australischen Bewacher ließen diese Aktivitäten zu und schritten nicht ein; denn ihrer Auffassung nach sollten die Deutschen ihr Lagerleben selbst organisieren. Kritiker des Nationalsozialismus wurden von den Templern drangsaliert.
Streitigkeiten brachen manchmal zwischen dem Lager D, wo die Juden untergebracht waren, und dem benachbarten Nazilager aus. Immer wieder baten die Juden die australischen Stellen, die Nazis umzusiedeln. Aber ihre Klagen wurden nicht gehört. Am Abend des 28. September 1941 kam es zu einem Zwischenfall. Mitglieder der Hitlerjugend sangen Nazi-Lieder am Zaun des D Lagers. Nachdem jüdische Frauen diese als Nazi-Schweine beschimpften, brach ein Tumult aus. Ein Mann aus dem C-Lager versuchte, den Zaun zum D-Lager zu überwinden. Wachleute gaben Warnschüsse ab. Die Bewohner des Lagers wurden aufgefordert, ihre Baracken aufzusuchen und sie nicht zu verlassen. Die australischen Autoritäten versuchten den Vorfall herunterzuspielen. Die einzige Maßnahme, die sie nach dem Vorfall ergriffen, war die Umsiedlung einiger nicht jüdischer Bewohner des D-Lagers in das C-Lager.
Gegen Ende des Krieges freute sich ein Teil der Deutschen in Tatura auf das Ende des Krieges und andere behielten bis zum Schluss ihre Loyalität gegeüber dem Dritten Reich. Als Hitlers tot bekannt gegeben wurde, feierten z.B. die Templer am 6. Mai 1945 ein Gedenkgottesdienst für den verstorbenen „Führer“. Am 8. Mai wurde die Niederwerfung des Dritten Reichs bekannt gegeben. Wenige Tage später, am 16. Mai, ersetzten die Australier den nationalsozialistischen Lagerleiter Gottlieb Ruff aus den Reihen der Templer durch den demokratisch gewählten Wilhelm Gran.
Mit dem Kriegsende war aber die Internierung der Deutschen noch nicht vorbei. Nach ca. sechs Jahren, also erst im Jahr 1947 wurde das Lager Tatura im australischen Outback aufgelöst. Ein Jahr später am 26. Mai 1948 erhielten Lucy Kahn und Erwin Kifferle die australische Staatsbürgerschaft.
Zunächst zogen sie in das malerisch gelegene Glenelg am Patawolonga Creek, wo sich auch einer der Badestrände der Großstadt Adelaide befindet. Die beiden faßten in ihren erlernten Berufen, Friseur und Schneiderin, wieder schnell Fuß und bauten sich eine solide neue Existenz auf.
Über dreißig Jahre mussten vergehen, bis sie sich 1968 aufrafften, wieder nach Deutschland, das sie unter so erbärmlichen Umständen verlassen mussten, zu fliegen. Ihre Nichten im Saarland nahmen die Rentner herzlich auf und machten den betagten Touristen ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich. Mit uns Kindern spielten der Onkel und die Tante aus Australien leidenschaftlich gern Canasta. Erwin bekam dazu seinen Lieblings-Cocktail, Screwdriver, bestehend aus Wodka und Orangensaft.
Erwin Kifferle verstarb kinderlos 1974 zwei Tage nach seinem 69. Geburtstag in Enfield nördlich von Adalaide. Lucy Kahn wurde trotz ihres erheblichen Zigarettenkonsums 84 Jahre alt. Beide fanden ihre letzte Ruhe auf dem Centennial Park Friedhof in Pasadena einem Vorort im Süden von Adelaide.
Nachfahren von Lucy Kahns Familie
Obwohl kinderlos hat Lucy über ihren ein Jahr älteren Bruder Julius Kahn Verwandte, die heute in den Vereinigten Staaten leben. Wie Lucys Bruder und seine Familie die Nazi-Zeit in Berlin Spandau überleben konnte, ist nicht überliefert. Zusammen mit seiner Frau Else Gertrud Schulz (geb. 1905 in Stralsund) hatte er eine Tochter, Lore (geb. 29.08.1928 in Berlin-Spandau). In der Volkszählung von 1939 wurde die Familie von deutschen Behörden als jüdische Mitbürger Berlins erfasst. Weshalb sie nicht verfolgt, wurden, müsste noch geklärt werden.
Am 7.12.1949 bestiegen die drei Auswanderer in Bremerhaven ein Schiff und kamen 10 Tage später in den USA an. Die Familie ließ sich in Louisville, Jefferson, Kentucky nieder. Lore heiratete den deutschstämmigen, wie ihr Vater in Gelsenkirchen geborenen Alfred Weber. Wie Lucys Mutter Clara Weber stammen Alfreds Vorfahren aus Andernach. Vermutlich gehören sie derselben jüdischen Großfamilie Weber an. Durch Lucys Nichte Lore Kahn, die am 6.6.2016 in Louisville verstarb, gibt es heute noch Nachfahren ihrer Familie, die allerdings alle den Namen Weber tragen.
|
Lore Kahn, geb.29.08.1928
|