Joseph (Yosel) Gruber, ein galizischer Jude und Opfer des Holocaust
Ur-Ur-Großvater unserer Enkel Ben und Jaime Chaikel
(Die nachfolgenden Ausführungen zur Person Joseph Grubers basieren auf Berichten seines Sohnes Simon Chaikel, einem überlebenden der Shoa.)
Am 15. Oktober 1898 wurde Joseph Gruber in Lisznia (Drohobycz, Lemberg) Galizien in Haus Nr. 108, als Untertan des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. geboren. Seit 1772 war Galizien Teil des Habsburgerreichs. Seine Eltern Benjamin Gruber und Geitel, geb. Egert ließen den Knaben eine Woche nach der Geburt durch Mayer Rappaport beschneiden.
Unter den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs musste Ostgalizien besonders leiden, weil auf seinem Territorium die Armeen Russlands und Österreichs sich kriegerische Auseinandersetzungen lieferten. Kurz nach Beginn des 1.Weltkrieges besetzten russische Truppen das zu Österreich-Ungarn gehörende Galizien. Eine Million Juden, die noch unter den Österreichern alle Menschen- und Bürgerrechte genossen, wurden Opfer brutaler Gewalt. Tausende verließen Haus und Hof und flohen vor den russischen Besatzern in die Gebiete der Habsburger-Monarchie. Diejenigen, die blieben, wurden Opfer von Morden, Vergewaltigungen, Plünderungen und Zerstörung. Hunger und Epidemien führten zu Massensterben. Juden wurden in die russische Armee gezwungen oder auch nach Russland deportiert.
Joseph, der damals 16 Jahre alt war, gehörte auch zu den Opfern. Obwohl deutsche und österreichisch-ungarische Truppen bereits im Juli 1915 Ostgalizien zurückeroberten, versuchten die Russen den groß gewachsenen sechszehnjährigen Joseph Gruber zum Kriegsdienst heranzuziehen. Dem entzog er sich zunächst durch Flucht, wurde gefasst und nach Tomsk in Sibirien – fast 3000 km Luftlinie östlich von Moskau gebracht. Dort lernte er seine spätere Ehefrau Bertha Chaikel kennen, die aus einer wohlhabenden Familie in Wilna, Litauen, stammte. Als Joseph wegen einer Erkrankung im Hospital lag, brachte ihm das junge Mädchen in Begleitung seiner Mutter koscheres Essen. Die jungen Leute verliebten sich und heirateten. 1920 gelang den beiden die Flucht von Russland nach China. Von hier traten sie die Heimreise nach Galizien an, das seit 1919 wieder zu Polen gehörte.
1921 traf das junge Paar in Josephs Geburtsort Lisznia, in Ostgalizien, ein, wo im selben Jahr noch ihr gemeinsamer Sohn Simon Chaikel geboren wurde. In dem kleinen Dorf lebten etwa zwölf bis fünfzehn jüdische Familien.
Die Lebensumstände waren sehr ärmlich. Joseph musste in das bescheidene Haus seines Vaters und seiner Stiefmutter einziehen. Seine leibliche Mutter Gitel Egert war gestorben, als er sechs Jahre alt war. Die Wohnverhältnisse waren äußerst beengt. Die Familien teilten sich die Küche. Joseph bewohnte mit Frau und Kindern ein Zimmer. Das Zusammenleben war nicht immer harmonisch.
Ebenso schlecht wie die Wohnverhältnisse war die wirtschaftliche Situation. Joseph, der keine Ausbildung absolviert hatte, arbeitet zunächst im Milchhandel seines Vaters, der immerhin ein Pferd besaß.
Schließlich fand er Arbeit bei den 15 km von seinem Wohnort entfernten Ölförderanlagen von Boryslaw, die wegen der harten Lebensbedingungen für Arbeiter auch die “Hölle Galiziens” genannt wurden. Dort hatte der Öl-Boom Mitte des 19. Jahrhunderts begonnen.
Den langen Weg nach Boryslaw legte Joseph zu Fuß in zweieinhalb Stunden zurück. So sehr er sich auch anstrengte, lebte die Familie weiterhin unter der Armutsgrenze. Wenn eines der Kinder krank war, konnte sie sich keinen Arzt leisten. Es fehlte das Geld, um eine weiterführende Schule zu finanzieren, so dass die Kinder nach der 7. Klasse trotz Begabung die Schule verlassen und arbeiten mussten. Immerhin gab es anlässlich Simons Bar Mizwa Kuchen und Wodka, ein echter Luxus. Danach, also mit 13 Jahren, fing Simon in dem 4 km entfernten Drohobycz eine Lehre als Schneider an . Während der drei Lehrjahre gab es keinen Lohn.
1935 entspannte sich die Wohnsituation der Familien. Josephs Vater Benjamin Gruber sah sich in der Lage, ein Grundstück zu kaufen, auf dem ein Haus für Josephs Familie errichtet wurde.
Am politischen Weltgeschehen war der Familienvater interessiert und las regelmäßig eine jüdische Tageszeitung. So verfolgte er auch den Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland. Die dortige Diskriminierung der Juden fand er nicht ungewöhnlich, weil Diskriminierung auch gängige Praxis in Polen war; denn seine Heimat gehörte wie gesagt inzwischen zu Polen. Anderseits hatten die Juden ihre Vertretung in den Gremien der Stadt und waren bemüht, mit der polnischen und ukrainischen Bevölkerung friedlich zusammenzuleben. Es gab keine Anzeichen, dass die Ukrainer den Juden gegenüber besonders feindselig gesonnen waren. Als man 1938 von der Gräuel der sog. „Kristallnacht“ in Deutschland erfuhr, gab es Überlegungen, nach Israel oder ein anderes Land auszuwandern. Aus finanziellen Gründen kam für Josephs Familie eine Emigration nicht in Frage.
Nach längerem diplomatischem und kriegerischem Tauziehen war nach dem 1. Weltkrieg im Mai 1919 Galizien polnisch geworden war. Die Beamten, fast vorwiegenden Polen, betrieben recht willkürlich eine Polonisierungspolitik. Die Ukrainer fühlten sich als Bürger zweiter Klasse und erhofften sich politische Selbständigkeit und die Befreiung von den Polen durch die Deutschen. Dieser Wunsch ging jedoch zunächst nicht in Erfüllung
Am 1. September 1939 überfiel die deutsche Wehrmacht Polen. Obwohl gemäß den Absprachen im Hitler-Stalin-Pakt nicht vorgesehen, überschritten elf Tage später größere Truppenteile der Heeresgruppe Süd die festgelegte Demarkationsline und besetzten den westlichen Teil Ostgaliziens. Ziel dieses Vorstoßes war vermutlich die Verfolgung polnischer Truppen oder das starke Interesse der Deutschen an den Ölfeldern im Raum Drohobycz – Boryslaw . Sowjets lehnten eine Nachverhandlung über den Verlauf der Demarkationslinie in diesem Bereich ab, so dass die Deutschen sich am 24. September 1939 wieder bis an den Fluss San zurückziehen mussten. Die Rote Armee besetze ganz Ostgalizien, also auch Drohobycz und Lisznia.
Diese zwei Wochen dauernde deutsche Besatzungszeit war für die Familie Gruber verhängnisvoll. Die Söhne Joseph Grubers, Simon und Henry, wurden von den Deutschen verhaftet und nach Polen in die Nähe von Lemberg in ein Zwangsarbeitslager gebracht. Dort wurden sie beim Ausbau von Straßen eingesetzt. Die Bewacher in dem Barackenlager waren ukrainischer Milizen. 1940 gelang den beiden Brüdern die Flucht.
Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurde Ostgalizien von den Deutschen in das sog. Generalgouvernement eingegliedert und von deutschen Truppen besetzt, die eng mit ukrainischen Milizen kooperierten.
Im September 1942 errichteten die deutschen Invasoren in Drohobycz, das eine der schönsten Synagoge Galiziens besaß, ein großes offenes Ghetto, in dem rund 10.000 Juden lebten. Bereits ab März 1942 wurden die ersten Juden in das Vernichtungslager Belzec deportiert und dort vergast. Arbeitsfähige jüdische Männer wurden in Arbeitslager geschickt und in der Raffinerie als Zwangsarbeiter eingesetzt. Insgesamt 1800 Juden wurden auf der Straße mit Hilfe der neu gegründeten ukrainischen Hilfspolizei auf der Stelle erschossen, als sie versuchten, sich zu verstecken oder zu fliehen. Aufgrund der Reduzierung der Lebensmittel im Herbst 1941 verhungerten besonders die armen Juden. Der darauffolgende Winter wurde so extrem kalt, dass vielfach die Alten und Kranken starben.
Über die genauen Lebensumstände der Familie Gruber für diesen Zeitraum ist nichts bekannt. Vermutlich erlitten sie ein ähnliches Schicksal wie die meisten Ihrer Glaubensgenossen. Joseph soll – nach der Auskunft seines Sohnes Simon – im Sommer 1941 beim Verhör nach dem Verbleib seiner Söhne von der ukrainischen Hilfspolizei ermordet. Es ist anzunehmen, dass Josefs Frau Berta im Alter von 44 Jahren zusammen mit ihren Töchtern Gitel (10 J.) und Faiga (6 J.) im einem Zeitraum zwischen Juni 1941 und November 1942 ermordet wurden, als die meisten Juden aus Drohobycz in Zügen in das Vernichtungslager Belzec deportiert wurden. Es ist auch nicht auszuschließen, dass sie zu den Opfern des Massakers im Wald von Boronici gehören. Im November 19141 wurden etwa 450 Juden im nahen Wald bei Boronici erschossen und in Massengräbern verscharrt. Ein Zeitzeuge berichtete:
„In den ersten Tagen des November 1941 erhielt der Judenrat eine Anweisung, dass sich alle Juden zwischen dem 16. Und 65. Lebensjahr, die keine Kraft zum Arbeiten hatten, im jüdischen Altersheim melden sollten, damit sie einer ärztlichen Untersuchung unterzogen werden könnten. An diesem Tag meldeten sich 420 Juden; sie wurden von ukrainischer Polizei und von der Gestapo umzingelt; eine Stunde später kamen Lastwagen und brachten sie unter Aufsicht dieser Henker in den Wald von Bronica in der Nähe von Drohobycz, wo alle ausnahmslos blutig geschlagen und anschließend erschossen wurden. Die zurückgekehrten Lastwagen, beladen mit Kleidern und Schuhen der ermordeten Opfer, zeugten von dem Schrecklichen, das sich ereignet hatte.“
(Quelle: Dr. Leon Tannenbaum in: DIE ZEIT NR. 44/1993)
Die letzten Juden aus Drohobych im Alter zwischen 21 und 30 Jahren, denen man noch habhaft werden konnte, wurden im Mai 1943 ermordet. 17.000 Juden von insgesamt 35000 Einwohnern Drohobycz‘ fanden den Tod.
Josephs Söhne Simon und Henry Chaikel konnten sich der Verfolgung durch Flucht entziehen und nach dem Krieg in die USA emigrieren.