Pius Zerr – zum Dienst in der Waffen-SS gezwungen

Pius Zerr – zum Dienst in der Waffen-SS gezwungen

Der Urgroßvater väterlicherseits unser Enkeltochter Lina Dietz heißt Pius Zerr, geb. 15.03.1926 in Franzfeld-Liebental bei Odessa (heute: Welykodolynske, Ukraine), dem Siedlungsgebiet der sog. Schwarzmeerdeutschen.

Pius Zerr wurde während des 2. Weltkrieges zum Dienst in der Waffen-SS zwangsverpflichtet. Als 1940 die deutsche Wehrmacht in den Raum Odessa vordrang und die Volksdeutschen von der Sowjetherrschaft „befreite“, war Pius 14 Jahre alt. Drei Jahre vorher war sein Vater von kommunistischen Volkskommissaren im Rahmen der stalinistischen „Säuberungen“ erschossen worden. Die Begeisterung über den Einmarsch der „Volksgenossen“ war angesichts des durch den stalinistischen Terror erfahrenen Leids bei den Volksdeutschen insgesamt sehr groß. Als junger Mann, gerade 18 Jahre alt, wurde Pius Teil der Kriegsmaschinerie der Nazis und 1944 zwangsweise zur Waffen-SS eingezogen. Wie kam es dazu?

Die Schwarzmeerdeutschen – Politische Lage ab 1940

Nach Beginn des Russlandfeldzuges fingen die Sowjets Anfang September 1941 an, 1,2 Millionen Volksdeutschen, die sie immer schon der Kollaboration mit dem Deutschen Reich verdächtigten, aus den Siedlungsgebieten an der Wolga, auf der Krim und aus den ukrainischen Schwarzmeerkolonien – nach Kasachstan und Sibirien zu deportieren. Deren gesamter Besitz wurde konfisziert. Wegen des schnellen Vorstoßes der deutschen Truppen gelang es den Russen nicht, die Bevölkerung aus den westlichen Siedlungsgebieten der Schwarzmeerdeutschen, wo auch der Heimort der Familie Zerr lag,  zu deportieren.

Sie siedelten zwischen den Flüssen Dnjestr im Westen und Bug im Osten. Im Süden wurde das Gebiet vom Schwarzen Meer begrenzt. Im Norden verlief die Grenze zum rumänisch beherrschten Bessarabien bzw. zu dem von den Deutschen besetzten Reichskommissariat Ukraine. In Transnistrien, wie es von nun an hieß, lebten rund drei Millionen Menschen. Ungefähr 140.000 davon waren Volksdeutsche.

Da die Nazis das Territorium ihren rumänischen Verbündeten überließen, unterstand seit 1940 offiziell der rumänischen Verwaltung. Diese hatte aber in den „volksdeutschen“ Siedlungen, also in den 228 Dörfer, in denen die Nachfahren deutscher Einwanderer lebten, nichts zu sagen. Die Nazis stellten der sog. Volksdeutsche Selbstschutz (VDS), eine paramilitärische Truppe, in Stärke von 8000 bis 9000 Mann, die wie der Name schon sagt, die dortige Bevölkerung vor Übergriffen schützen sollte.  Der VDS war in erheblichem Umfang an Kriegsverbrechen und der Ermordung von Juden beteiligt. Er unterstand dem „Sonderkommando R“ (Russland), unter Führung des SS-Standartenführers Horst Hoffmeyer. Die Gesamtbetreuung der deutschen Siedlungen oblag der SS-geführten „Volksdeutschen Mittelstelle“ in Berlin. Faktisch kontrollierte die deutschen Siedlungen in Transnistrien, nicht die rumänische, sondern komplett die deutsche Administration.

Rekrutierungen durch die Waffen-SS – 1944

Zunächst waren Schwarzmeerdeutschen von einer Rekrutierung durch die Wehrmacht oder SS ausgenommen, da man die schon von den Sowjets stark dezimierte Volksgruppe nicht weiter schwächen wollte.

Die Niederlage der deutschen Wehrmacht bei Stalingrad, am 8. Januar 1943 brachte die Wende. Zur Auffrischung geschwächter Verbände wurde das Rekrutierungsverbot klammheimlich durch den Reichsführer SS Heinrich Himmler aufgehoben.

Im März 1944, als die Rote Armee immer näher rückte, wurde die Bevölkerung der deutschen Dörfer Transnistriens evakuiert und in dem Warthegau umgesiedelt. Betroffen waren auch Pius, seine Mutter Elisabeth und seine Schwester Maria.

Pius, der zu diesem Zeitpunkt gerade 18 Jahre alt geworden war, wurde durch die SS-Ergänzungsstelle Warthe (XXI.) – vermutlich im Spätsommer 1944 – zur Waffen-SS eingezogen.  Es ist dokumentiert, dass er im Oktober 1944 seine Ausbildung zum SS-Panzergrenadier in Iglau (Jihlava) /Mähren erhielt. Er diente im SS-Panzergrenadier-Ausbildungs- und Ersatz-Bataillon 17. Seine Dienstzeit betrug ca. ein halbes Jahr.

Kriegsende und Gefangenschaft – 1945

Über sein weiteres Schicksal während der letzten Kriegsmonate, das sich im Raum Mähren und Böhmen abgespielt haben muss, liegen weiter keine Angaben vor und kann nur aufgrund der historisch belegten militärstrategischen Gegebenheiten erschlossen werden.

Am 7. Mai 1945 erfolgte die bedingungslose Kapitulation des Deutschen Reiches, die auch die Ostfront betraf. Die deutsche Delegation erreichte in den Verhandlungen das Zugeständnis, dass sich die an der Ostfront kämpfenden deutschen Truppen innerhalb von zwei Tagen hinter die amerikanischen Linien zurückziehen durften, um einer Gefangennahme durch die Rote Armee zu entgehen. Diese rückte  mit aller Macht  aus dem Norden und Osten kommende heran.  Umgehend ordnete Großadmiral Karl Dönitz den Rückzug der kämpfenden Truppe nach Westen an. Hunderttausend deutscher Soldaten folgten diesem Aufruf. Unter den 250.000 deutschen Soldaten, die sich in der Zeit vom 8. bis 12. Mai in amerikanische Gefangenschaft begaben, musste auch Linas Urgroßvater, der Panzergrenadier Pius Zerr, gewesen sein. Aufgrund der der Tatsache, dass Pius nicht in russische, sondern amerikanische Gefangenschaft geriet, ist anzunehmen, dass sich seine Einheit wie viele andere auch nach Westen Richtung Böhmen abgesetzt hat. Dort standen die amerikanischen Truppen, die unter General Patton am 6. Mai 1945 bis zu der Linie Karlsbad – Pilsen – Budweis vorgedrungen waren.

Seine Kriegsgefangenschaft dauerte vermutlich nicht lange, da er schon bald im Raum Gießen, wo die US-Armee ein großes Depot unterhielt, auftauchte. Er heiratet 1949 Else Becker, die aus einer alteingesessen Anneröder Familie stammte. 1950 wurde dem Paar ein Sohn geboren, Wolfgang Zerr, Linas Großvater.

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